BVerfG zum Verzicht auf Einzelausgeboten

Aus den Gründen BVerfG, Beschluss vom 26.09.2012, 2 BvR 938/12:

Rdnr. 20:

Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 42, 364; 47, 182; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. September 2010 – 2 BvR 2394/08 -, juris, Rn. 14). Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings nur dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (vgl. BVerfGE 25, 137; 47, 182). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Vorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfGE 40, 101; 47, 182). Die Gerichte sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in der Begründung der Entscheidung ausdrücklich zu befassen (vgl. BVerfGE 13, 132; 42, 364; 47, 182). Deshalb müssen, wenn das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen soll, im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 27, 248; 47, 182). Dergleichen Umstände können insbesondere dann vorliegen, wenn das Gericht wesentliche, das Kernvorbringen eines Beteiligten darstellende Tatsachen unberücksichtigt lässt. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in der Begründung der Entscheidung nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist (vgl. BVerfGE 86, 133; BVerfGK 6, 334; 10, 41). Daraus ergibt sich eine Pflicht der Gerichte, die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Entscheidungsgründen zu verarbeiten (vgl. BVerfGE 47, 182; BVerfGK 10, 41; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. September 2010, a.a.O.).

Aus Rdnr. 21:

Nach diesem Maßstab verletzt der Beschluss des Landgerichts vom 22. Februar 2012 die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör. Denn der Beschluss lässt nicht erkennen, dass das Gericht den Kern ihres Tatsachenvortrags zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Kern ihres Beschwerdevorbringens war, dass sie um 10.10 Uhr erschienen sei, das Amtsgericht erstmals um 10.12 Uhr zur Abgabe von Geboten aufgefordert habe und sie somit im maßgeblichen Zeitpunkt, nämlich vor Beginn der Bietstunde anwesend gewesen sei, ohne zur Frage der Zulassung eines Gesamtausgebots unter Verzicht auf Einzelausgebote gehört worden zu sein, geschweige denn einer solchen Verfahrensweise zugestimmt zu haben.

Rdnr. 24-26:

3. Durch den Beschluss des Landgerichts vom 27. März 2012 wurde der Gehörsverletzung nicht abgeholfen. Das Landgericht nahm darin zwar den Tatsachenvortrag der Beschwerdeführerin, vor Beginn der Bietstunde erschienen zu sein, und ihren Rechtsstandpunkt, dass sie deshalb ausdrücklich auf Einzelausgebote hätte verzichten müssen, zur Kenntnis, zog diesen Kernvortrag bei der Entscheidung über den Erfolg der Gehörsrüge jedoch nicht (ernsthaft) in Erwägung. Die vom Landgericht gegebene Begründung
– „Die Gehörsrüge der Beschwerdeführerin hat keinen Erfolg, es wird insofern ausschließlich auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts verwiesen“ -,
erwähnt dieses Kernvorbringen nicht ansatzweise; eine Auseinandersetzung mit dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 2. Februar 2012 (V ZB 6/11 – juris) findet nicht statt. Dabei lag diese hier besonders nahe, weil der Bundesgerichtshof – wie von der Beschwerdeführerin in der Anhörungsrüge zutreffend ausgeführt – in Fallkonstellationen wie im Ausgangsverfahren eine Versteigerung ausschließlich aufgrund eines Gesamtausgebots jedenfalls bei nicht rechtsmissbräuchlichem Verhalten des Schuldners als unzulässig ansieht, falls – wie hier – der Schuldner zu Beginn der Bietzeit anwesend ist und es an einer von ihm stammenden Erklärung, auf Einzelausgebote zu verzichten, fehlt.